Mittwoch, 15. Februar 2012

Nationen-Stereotype in Europa


Die Briten: 

Komasäufer und Gentlemen

Stereotypen sind selbst Stereotypen. Das Bild, das die Europäer von den Briten haben - entweder vollgekotzter, besoffener Fußballfan oder schnodderig-eleganter Finanzhai, die beide von vergangener Glorie zehren und bereuen, dass sie nur in Europa leben, statt über die Welt zu herrschen -, dieses Bild ist ja auch schon ein Klischee.

So wie wir Briten wissen, dass Franzosen ein gestreiftes Hemd und eine Baskenmütze tragen und die rotgesichtigen Deutschen sich 
nur von Bier und Wurst ernähren, so genau wissen wir auch, was all
die Europäer über uns denken. Saufen, Klassendünkel und die Obsession mit dem Zweiten Weltkrieg, all das taucht regelmäßig auf, wenn unsere Kollegen jenseits des Kanals mal eben den Briten als solchen beschreiben.
Schön wäre es, sagen zu können, dass sie damit völlig danebenliegen. Aber leider werden Klischees erst Klischees, wenn sie im Wesentlichen der Wahrheit entsprechen.
Die Sauferei zum Beispiel. Sicher, wir könnten jetzt mit der Statistik kommen, die bestätigt, dass wir längst nicht die schwersten Trinker in Europa sind. Tatsächlich liegen wir im jüngsten OECD-Bericht auf Platz elf beim Alkoholkonsum, weit hinter den erstplatzierten Franzosen, denen Portugiesen und Österreicher folgen.
"Das Problem besteht darin, wie wir trinken"
Aber während Franzosen, Deutsche, Spanier und Italiener ihren Konsum seit den achtziger Jahren stark gesenkt haben, trinken die Briten jetzt neun Prozent mehr. Am Ende ist es jedoch nicht die schiere Zahl der geschluckten Pints - oder Liter -, die uns diesen versoffenen Ruf beschert hat. Das Problem besteht in der Art und Weise, wie wir trinken. Der französische Konsum mag hoch sein, aber er ist es, weil viele Leute eher wenig trinken: das Glas Rotwein zum Essen.
Die britische Krankheit hat es sogar in die französische Sprache geschafft: Le binge drinking, das Komasaufen, nennt man dort jene Veranstaltung, bei der es alleine darum geht, sich möglichst schnell die Birne abzuschießen. Laut einer Studie geben 54 Prozent der 15- und 16-jährigen Briten zu, schon mal beim Komasaufen mitgemacht zu haben; der EU-Durchschnitt liegt bei 43 Prozent. Es ist also schon was dran an diesem Image.
Und das angeblich so schreckliche Klassenbewusstsein? Wenn wir nur sagen könnten, das sei überholt und die meisten Briten seien längst Teil einer riesigen Mittelklasse. Die Zahlen sind weniger tröstlich. Was die soziale Durchlässigkeit betrifft, liegen die Briten laut OECD am Ende der Skala; Kinder aus armen Familien haben geringere Aussichten, nach oben zu kommen, als in Italien, Frankreich, Spanien oder Deutschland. Und leider ist es mehr als ein Klischee, dass hierzulande noch immer zählt, welche Aussprache man hat und auf welcher Schule man war.
Der Schöpfungsmythos der Briten
Auch die Kriegsbesessenheit lässt sich nicht so leicht verleugnen. Wir haben die Jahre von 1939 bis 1945, aus zum Teil ehrenwerten Gründen, zu einer Art Schöpfungsmythos gemacht, zur Geburtsgeschichte des modernen Großbritannien. Wir haben Churchill zum größten Briten gewählt, wir verehren die Queen auch deshalb, weil sie einen direkten Bezug zu einer Zeit darstellt, als wir unstreitig auf der Seite des Guten standen.
Und doch: Als Brite muss man der Karikatur von uns auch widersprechen. Zum einen ist sie widersprüchlich. Wie kann man gleichzeitig total kontrolliert und willens sein, sich betrunken die Kleider vom Leib zu reißen? Und sie ist unvollständig. Vor allem in den großen Städten ist unsere Gesellschaft weit vielfältiger, als das Hooligan/Gentleman-Image suggeriert.
Im Vergleich zu anderen europäischen Ländern ist Großbritannien insgesamt wohl auch toleranter. Einige öffentliche Dienstleister - der National Health Service, die BBC - werden immer noch bewundert. Das Land ist, trotz allem, nicht pleite. Und wer das nicht akzeptieren mag, sollte hören, was wir über ihn sagen.
Jonathan Freedland (Guardian)


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