Sonntag, 12. Februar 2012

Nationen-Stereotype in Europa

Ende Januar haben sechs große europäische Tageszeitungen, nämlich El País (Madrid), The Guardian (London), Gazeta Wyborcza (Warschau), La Stampa (Turin), Le Monde (Paris) und die Süddeutschen Zeitung (München), gemeinsam weit verbreitete Klischees und Vorurteile untersucht, die sich Europäer gegenseitig zuordnen.
Man hat die Ergebnisse miteinander geteilt und in einer Beilage veröffentlicht, die in den beteiligten Tageszeitungen erschien. 

Hier ist der Artikel von Rainer Erlinger von der Süddeutschen Zeitung auf Deutsch, morgen poste ich ihn in seiner englischen Übersetzung, wie er im Guardian erschien:


Die Deutschen: Reine Liege machen

Ja, sie stimmen alle. Alle Klischees sind richtig. Sogar das mit den Handtüchern, mit denen die Deutschen frühmorgens die Liegen am Pool besetzen. Zumindest hat mir das ein weit gereister Freund bestätigt, und er bestätigte auch, dass es ausschließlich die Deutschen seien, die es machen. Allerdings widerlegte er das Klischee teilweise gleich wieder. Nicht nur, weil er selbst als Deutscher, wie er versi-cherte, das nie tun würde. Sondern weil er mit zwei Engländerinnen, die er am Abend vorher beim Trinken in der Hotelbar - so viel zu weiteren Klischees - kennengelernt hatte, am nächsten Morgen am menschenleeren Hotelpool eigenhändig alle Handtücher von den Liegen warf.

Allerdings nährt er mit dieser Aktion gleich das nächste Klischee: Fleiß, Effizienz und Disziplin. Die meisten Urlauber aus anderen Ländern beklagen sich über den Missstand, er schritt zur Tat und machte mit wenigen Handgriffen reine Liege. Womit klar wäre, dass er nicht aus Berlin kommt. Nicht weil er handgreiflich wurde, das gibt es in Berlin durchaus. Sondern wegen Fleiß, Effizienz und Disziplin.

Vielleicht sind das wirklich typisch deutsche Eigenschaften, nur dass sie typisch für die Hauptstadt wären, habe ich noch nirgendwo gehört. Höchstens in Berlin. Ansonsten hält man in den anderen Teilen der Republik Berlin eher für das Südamerika des Landes. Nicht wegen des Wetters, sondern wegen des entspannten Verhältnisses zu Terminen und Fertigstellungen. Obwohl es nicht wirklich entspannt ist, sondern alle sich darüber aufregen - das ist schon wieder eher typisch für Berlin -, aber effizient ist nicht das richtige Wort für Berlin. Siehe die Berliner Baustellen. So sind für gut zwei Kilometer neue Straßenbahngleise - um den Hauptbahnhof Jahre nach seiner Fertigstellung anzubinden - drei Jahre Bauzeit veranschlagt. Verzögerungen nicht eingerechnet.

"Vielleicht sind die Chinesen die Deutschen des 21. Jahrhunderts"

In der Zeit werden in China komplette Städte oder Hochgeschwindig-keitstrassen gebaut. Vielleicht sind die Chinesen die Deutschen des 21. Jahrhunderts. Oder die Berliner keine typischen Deutschen. Was es über ein Land aussagt, wenn die Hauptstadt untypisch ist, bliebe zu ergründen.

Beim dritten Klischee wird es schwierig: Die Deutschen seien steif und humorlos. Sicherlich ist Frau Merkel steifer als Herr Berlusconi, bei Herrn Monti könnte es umgekehrt sein. Und dass Herr Wulff steifer ist als die Queen werden die wenigsten behaupten. Was vielleicht ein Problem darstellt, weil Herr Wulff etlichen hierzulande zu wenig steif war im Umgang mit Freunden und deren Wohltaten. Und zu steif, was Offenheit angeht. Obwohl steife Lippen, zumindest Oberlippen, ja sonst den Engländern nachgesagt werden.

Hier kommt womöglich die Humorlosigkeit der Deutschen zu tragen: Anscheinend versteht man keinen Spaß, wenn es um Politiker geht. Zumindest außerhalb von Satiresendungen und Karnevalssitzungen - vielleicht haben die Deutschen doch Humor, er muss nur im Terminka-lender eingetragen sein. Über das, was Herrn Wulff vorgeworfen wird, würde man in anderen Ländern wohl lauthals lachen. Da fällt einem wieder Herr Berlusconi ein. Das darf man hier schreiben, schließlich geht es um Klischees. Und die, die man den Deutschen nachsagt, stimmen eben alle. Auf jeden Fall ist man bei ihrer Einhaltung diszipliniert, fleißig und effizient.

Rainer Erlinger (Süddeutsche Zeitung)

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